Business Circle: Während das Ertragsteuerrecht derzeit vor allem durch Diskussionen zur Corona-Pandemie und zu Entwicklungen auf EU- und OECD-Ebene geprägt ist. Gehen bilanzsteuerrechtliche Fragen tendenziell unter, obwohl es sich dabei um Dauerbrenner auch bei Betriebsprüfungen handelt. Welchen Stellenwert hat das Bilanzsteuerrecht im derzeit vor allem von internationalen Aspekten geprägten Ertragsteuerrecht?
Christoph Marchgraber: Der Stellenwert des Bilanzsteuerrechts ist nach wie vor hoch. Es ist richtig, dass bereits seit einigen Jahren die Steuerpolitik und damit auch die Diskussion von internationalen Entwicklungen vor allem auf OECD-Ebene (zB BEPS, Pillar I+II) beherrscht wird. Bei Unternehmen, Beratern und der Finanzverwaltung stehen bilanzsteuerrechtliche Fragestellungen aber nach wie vor auf der Tagesordnung.
BC: Welche Themen kommen Ihnen dabei als Erstes in den Sinn?
Marchgraber: Das Bilanzsteuerrecht in Österreich ist vom Maßgeblichkeitsprinzip gekennzeichnet. Ausgangspunkt ist daher die unternehmensrechtliche Bilanzierung, von deren Korrektheit für steuerliche Zwecke zwar ausgegangen werden kann. Gerade dies kann aber in der Praxis zu Herausforderungen führen. So kennt das UGB zB das Wesentlichkeitsprinzip, das dem Steuerrecht fremd ist. Dies führt mitunter dazu, dass die unternehmensrechtliche Dokumentation „unwesentlicher“ Positionen (zB Rückstellungen oder Teilwertabschreibungen) den steuerrechtlichen Anforderungen nicht genügt. Dieses Thema begegnet uns derzeit vor allem bei der Einführung von Steuerkontrollsystemen (kurz: SKS), wenn es darum geht, das interne Kontrollsystem für das Rechnungswesen „SKS-fit“ zu machen. In meinem Workshop beim TAX Circle 2021 habe ich in diesem Zusammenhang in dem Raum gestellt, ob es dadurch zu einer „Ver(steuer)rechtlichung des UGB“ kommt.
BC: Wie reagieren der Gesetzgeber und die Finanzverwaltung auf diese Herausforderungen?
Marchgraber: Das Maßgeblichkeitsprinzip beschäftigt die Wissenschaft seit Jahrzehnten. Der österreichische Gesetzgeber scheint ein ambivalentes Verhältnis zu diesem Thema zu haben. Einerseits ist das Maßgeblichkeitsprinzip als Eckpfeiler des Bilanzsteuerrechts gesetzlich verankert. Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Regelungen, die dieses Prinzip durchbrechen. In jüngerer Zeit wurden auf Initiative der Finanzverwaltung Angleichungen des Steuer- und Unternehmensrechts vorgenommen. Man denke zB an die mit dem RÄG 2014 vorgenommenen Änderungen und jüngst an die nunmehr mögliche steuerliche Geltendmachung pauschaler Forderungswertberichtigungen und pauschaler Rückstellungen. Dass eine solche Angleichung aber alles andere als trivial ist, zeigt die Einführung der degressiven Abschreibung im Steuerrecht. Wenngleich beabsichtigt war, das Steuerrecht damit ein Stück mehr dem UGB anzupassen, passierte in der Praxis das Gegenteil. Denn eine degressive Abschreibung ist unternehmensrechtlich nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und in den seltensten Fällen möglich. Der Gesetzgeber sah sich daher gezwungen, die degressive Abschreibung im Steuerrecht vom Maßgeblichkeitsprinzip auszunehmen. Es handelt sich daher de facto um keine Vereinheitlichung des Bilanzrechts und des Bilanzsteuerrechts, sondern um einen (derzeit nur temporär vorgesehenen) steuerlichen Investitionsanreiz. All dies zeigt, dass das Bilanzsteuerrecht weiterhin große praktische Herausforderungen mit sich bringen wird.
Es wird in Zukunft für am Bilanzsteuerrecht Interessierte noch wichtiger sein, auch im Bilanzrecht und in den IFRS Expertise aufzuweisen.
BC: Wie sieht die Zukunft aus? Was ist aus bilanzsteuerrechtlicher Sicht zu erwarten?
Marchgraber: Auch das Bilanzsteuerrecht bleibt von internationalen Entwicklungen nicht verschont. Die von der OECD vorangetriebene globale Mindestbesteuerung (Kurz: Pillar II) geht im Hinblick auf das Gewinnermittlungsrecht einen aus österreichischer Sicht neuen Weg. Ausgangspunkt der globalen Mindestbesteuerung ist die für Konsolidierungszwecke zu erstellende Handelsbilanz II eines Unternehmens, die in vielen Fällen nach IFRS erstellt wird. Das darin enthaltene Ergebnis sowie die ausgewiesenen Steuern sind um verschiedenste Positionen anzupassen, um letztendlich die effektive Steuerbelastung ermitteln und feststellen zu können, ob der Mindeststeuersatz von 15% unterschritten wird. Es wird in Zukunft für am Bilanzsteuerrecht Interessierte noch wichtiger sein, auch im Bilanzrecht und in den IFRS Expertise aufzuweisen.
BC: Sehr geehrter Herr Marchgraber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch und freuen uns auf ein Wiedersehen beim TAX Circle!
StB Priv.-Doz. Dr. Christoph Marchgraber ist Tax Senior Manager bei KPMG in Wien. Tätigkeitsschwerpunkte sind u.a. das Konzern- und Bilanzsteuerrecht sowie das internationale und europäische Steuerrecht. Er verfügt über eine Habilitation im „Finanz- und Steuerrecht“, und tritt regelmäßig als Vortragender und Fachautor zu diversen steuerrechtlichen Themenstellungen auf. Christoph Marchgraber hält am 23. Juni 2022 beim TAX Circle zusammen mit Mag. Michael Schwarzinger, Fachbereich im Finanzamt für Großbetriebe (FAG), einen Workshop zum Thema „Beteiligungen im Bilanzsteuerrecht“.
Zum TAX Circle 2022