Erfolgsfaktor Kultur im digitalen Zeitalter
Eigentlich war doch alles perfekt im Vertrieb des Speziallogistik-Unternehmens. Die neue Vertriebsleiterin hatte innerhalb eines knappen Jahres sämtliche Strukturen im Kundenmanagement modernisiert. Die etwas behäbige, rein nach Regionen aufgeteilte Vertriebsmannschaft wurde anders aufgestellt: Da gibt es jetzt ein Key-Accounting für Top-Kunden, Betreuer für wesentliche Kern-Branchen und Telefonsales für Kleinkunden.
Die neue Kundensegmentierung beruht nicht mehr auf einer einfachen aber wenig aussagekräftigen ABC-Klassifizierung, sondern einer an Nutzenkriterien orientierten Einteilung, wertmäßig untermauert mit einer Kundendeckungsbeitragsrechnung. Dem Vertrieb steht ein perfektes CRM-System zur Verfügung, die gesamte Kundenentwicklung wird permanent über Kennzahlen entlang der Vertriebspipeline „getrackt“.
Und dann kommen die ersten Quartalsergebnisse - enttäuschend!
Bei den Mitarbeitern regt sich erster Zweifel, ob diese Umstellung so richtig war. Früher war doch alles einfacher! Jeder Kunde hatte seinen persönlichen Betreuer, der alles für den Kunden tat. Zwar war das Unternehmen etwas mit seinem bestehenden Kundenstamm gealtert, aber es lief doch.
Lediglich die Branche wurde in diesem Beispiel verändert. Ansonsten hat es sich genauso abgespielt. Ähnlich wahrscheinlich nicht nur einmal, sondern vielfach. Und immer herrscht wieder die bittere Erkenntnis, dass es nicht Strukturen und Systeme á la CRM sind, die das Kundenmanagement verändern. Diese sind lediglich der Hebel, um etwas im Markt zu bewegen.
Wie schon Archimedes wusste:
Der kann nur die Welt aus den Angeln heben, wenn er einen festen Aufsatzpunkt hat.
Und dieser ist in diesem Fall eine stabile „Kultur“ des Vertriebs.
Kultur ist dabei weder etwas esoterisches („Optimierung des Energieflusses“) noch eine einseitige Beschränkung auf Motivation („Empowerment“). Es geht vielmehr darum:
- Die grundlegende Sichtweise des Vertriebs auf den Markt und dessen Selbstverständnis zu verändern. Wenn tief im Inneren der beteiligten Vertriebler noch ein Weltbild dominiert, dass von vergangener Stärke oder Schwäche geprägt ist, oder in dem es noch den Kunden als Besitz des einzelnen Vertrieblers gibt („das ist mein Kunde!“), wird man kaum zu neuen Eroberungstaten in der Multichannel-Welt aufbrechen können.
- Die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Arbeit umzukrempeln – und die Vertriebsmitarbeiter von deren Wirksamkeit zu überzeugen. In einer Wettbewerbsarena, in der auch Logistikleistungen über virtuelle Marktplätze mit internationaler Beteiligung vergeben werden, brechen viele alte Handlungsmaximen („Wenn ich beim Einkäufer x um y% runtergehe, komme ich immer mit einem Auftrag zurück“) in sich zusammen. Da ist gemeinsames Ausprobieren notwendig, das aber systematisch nachgehalten und für alle transparent gemacht werden muss.
- Das sichtbare Verhalten anzupassen. Das beginnt im internen Umgang miteinander, der von einem viel stärkeren Informationsfluss geprägt sein muss und endet bei dem Verhalten gegenüber Kunden. Das klassische Denken in Schlagzahlen und Besuchszyklen hat angesichts veränderter Vernetzung mit dem Kunden in vielen Fällen überhaupt keinen Platz mehr.
Der Speziallogistiker hat sich diesen Herausforderungen gestellt. Und siehe da: Es hat noch einmal fast ein Jahr gedauert, aber jetzt hat der Hebel der Vertriebsstruktur den festen Aufsatzpunkt und wirkt. Hätte man die Kultur von Anfang mitgedacht wäre diese „Schleife“ allerdings vermeidbar gewesen.
Der Autor dieses Artikels Dr. Michael Paul ist Geschäftsführer der paul und collegen consulting GmbH in Wien und Berlin. Er beschäftigt sich mit strategischen Neuausrichtungen, Umstrukturierungen und Sanierungen von Unternehmen. Beim diesjährigen Praxis-Forum CRM & Customer Experience gibt er Impulse zu Marketing & Vertrieb im digitalen Wandel.