Die Personalarbeit war selten so gefordert, wie sie es seit dem Ausbruch von COVID-19 und den damit verbundenen Maßnahmen ist: Allen Mitarbeitern ein sicheres Umfeld zu gewährleisten, Schutzmaßnahmen umsetzen, Remote-Work und Homeoffice einzuführen oder die rasche Umstellung auf digitale Führungsprozesse und organisationale Abläufe sind nur einige aktuelle Aspekte des Personalwesens.
Was bleibt von der Pandemie, und wie geht es weiter? Selbst wenn sich der Nebel der Unklarheiten leicht gelichtet hat und die Konturen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Welt klarer werden, bleiben klare Antworten auf diese Fragen ein Wunschdenken. Die widersprüchlichen Strukturen der unternehmerischen Gegenwart sperren sich gegen allzu einfache Erzählungen, sie sollten aber auch kein Anlass für Hysterie oder Alarmismus sein.
Es gibt eben keine einfachen Lösungen für komplexe Themenstellungen und Entwicklungen. Hat man dies einmal akzeptiert und hat vom alten wohligen Gefühl der Einfachheit losgelassen, dann wird eines rasch erkennbar: Ohne Ambiguitätstoleranz und Kontextkompetenz wird es in den Anfängen der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts nicht gehen. Widersprüche, Unsicherheiten und fehlende Planbarkeiten benötigen Toleranz und Akzeptanz derselben, wer damit produktiv umgehen kann, ist in der Postmoderne, die spätestens die Corona-Krise eingeläutet hat, im klaren Vorteil. Dazu bedarf es aus Sicht des Personalwesens einiger Anmerkungen.
Ambiguität verstehen
Der Ausbruch des Coronavirus brachte eine Verlusterfahrung mit sich, mit der Führungskräfte und Mitarbeiter – geprägt von der sicheren und planbaren industriellen Welt – nicht so ohne weiteres umgehen können. Management bedeutet schließlich planen, entscheiden, analysieren und kontrollieren. In einer voraussehbaren Welt ist das machbar. Aber wie manage ich in einem Umfeld, das am Beginn der Transformation von der industriellen zur digitalisierten, spätmodernen, postindustriellen Gesellschaft steht? Wo so manche Managementinstrumente seltsam aus der Zeit gefallen wirken, Drei- bis Fünfjahrespläne oft nicht mal das Papier, auf dem sie geschrieben stehen, wert sind und selbst eine Jahresbudgetplanung, die auf zwölf Monate ausgelegt war, nach ein, zwei Monaten revidiert werden muss. Firmeneigentümer, Manager und Mitarbeiter fühlen den Verlust dieser Kontrolle. Dies geht einher mit einem Gefühl der Schwäche: Nicht auf alles eine Antwort haben bringt ein Gefühl mangelnder Steuerungsfähigkeit mit sich.
Zugleich nehmen wir ein Paradoxon wahr: Es gibt eine unheimliche Fülle an Daten, Fakten und Zahlen, die uns ERP-Systeme liefern. Aus dieser Fülle aber Wissen und Erkenntnis zu gewinnen, die richtigen Analysen zu nutzen, um so zu den relevanten Entscheidungen zu gelangen, wird zunehmend herausfordernder. Der Kontrollverlust wird zum markanten Merkmal einer widersprüchlichen Welt. Für Führungskräfte bedeutet das vermehrt die Einsicht, nicht alles vorab planen zu können. Es bedarf einer flexiblen Gestaltung des Miteinanders, des Austausches und des Denkens sowie der Möglichkeiten und Szenarien. Die neuen Organisationen sorgen dafür, dass Austausch entsteht und jeder weiß, was wo zu tun ist.
Es geht nur sinnvoll
In einer Welt der Ambiguitäten geht das nur gemeinsam, wenn auch der Sinn ("purpose") verstanden wird. Führungskräfte haben daher als Übersetzer zu fungieren, die Wahrnehmung, Sinn und Entscheidung verbinden und erklären. Das ändert die Führungsrolle. Es geht nicht mehr um Ansage und Richtung-Geben, sondern um Diskursmöglichkeit und Verständnisgewinn für Entscheidungen. Gleichzeitig bedeutet das auch, Führende zu unterstützen und die Führungsrolle angesichts des dramatischen Wandels attraktiver zu gestalten.
Sorgen verstehen
Im gesellschaftlichen Leben mündet die erwähnte Verlusterfahrung durch Corona nicht selten in Empörung und Gekränktheit. Jeder ist Opfer und hat daher das Recht, aus seiner / ihrer Betroffenheit heraus recht zu haben – jeder hat recht, jeder darf sich über alles aufregen. Dies wird auch in Unternehmen stärker beobachtbar, auch in den Betrieben nimmt das gefühlte Gekränktsein zu. Opfer sein ist einfach, man ist selbst nie schuld. Die Empörungsenergie wird größer und größer, gespeist aus einer tiefen Verunsicherungserfahrung der letzten Monate. Die hohen Erwartungen an klare Ansagen, Planungen, Ziele können immer weniger erfüllt werden. Allen ist mittlerweile klar, dass diese Transformationen unwiederbringliche Verluste der gesicherten, klaren, planbaren Welt bringen. Die entstehenden Sorgen müssen wir ernst nehmen und klären, wie wir mit Nostalgie und Verlusten umgehen.
An die Stelle der Planbarkeit tritt ein Navigationssystem, das zuallererst das Bild der eigenen Lage des Unternehmens bieten muss. Ambiguitätstoleranz bedeutet, mit all der Unklarheit und den Widersprüchen richtig umzugehen. Demut, Gelassenheit, Augenmaß statt Kontrolle, Ansage und Ausrichtung. Wer das früh versteht, wird den verantworteten Aufgabenbereich richtig managen. Gutes Führen und gutes Management ist vor allem Kommunikation, Gespräch, Diskurs – Dinge neu zu ordnen, sich zu irren, zu scheitern, besser zu scheitern, verändern, anpassen: Dies sind die wesentlichen Aufgaben des Managements nach der Pandemie – es wartet Anpassungsarbeit auf uns. Gleichzeitig sollten Mitarbeiter Verständnis für diese Unsicherheiten mitbringen und nicht immer auf alles eine Antwort einfordern. Die Dinge sind eben nicht immer klar – der Irrtum wird viel öfter zur Regel. Demut, Gelassenheit, Augenmaß. Es braucht die Neuvermessung des Managements. Das Personalwesen hat dies im Blick und sollte ein Umfeld bieten, das aus Mitarbeitern Selbstbestimmte macht, die ihren Beitrag zum Ganzen kennen und anerkannt bekommen.
Kontext verstehen
Der österreichische Autor und Journalist Wolf Lotter hat in seinem aufsehenerregenden Buch Zusammenhänge: Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen eindrucksvoll auf die Bedeutung des Erkennens von Kontext hingewiesen. Kontextverständnis erfordert offene Ohren und Augen – und laut Lotter "Leute, die auch wieder auf Weitwinkel umschalten können. Meisterschaft stellt scharf, wo es nötig ist."
Kontext benötigt Können und Wissen, Anwendungskompetenz und Neugierde. Die industrielle Welt hat den Spezialisierungsgrad auf die Spitze getrieben. In einer Welt der Ambiguitäten bedarf es aber sowohl des generalistischen Spezialisten wie auch des spezialisierten Generalisten. Die Personalarbeit hat die Grundlage zu stellen, dass wechselseitiges Verständnis und Know-how-Transfer gelingen können. Wer Generalisten will, braucht Breite und Tiefe im Denken, Handeln und Führen. Kontextkompetenz führt raus aus den eigenen Denkräumen, Einstellungen, Vorurteilen und der eigenen erfundenen Wirklichkeit. Wer Zusammenhänge im betrieblichen Kontext verstehen will, muss nicht zu allem und jedem schon eine Meinung haben, aber aus der Bubble gehen und weniger recht haben wollen. Wir neigen dazu, alles und jedes im Entweder-oder-Modus zu betrachten.
Durchsetzungsstark – echt?
In erfolgreichen Unternehmen braucht es aber eine "Sowohl-als-auch-Denke". Hier geht es nicht mehr um Macht und Durchsetzung, sondern um Analyse und Richtung. Kreativität, analytisches und kritisches Denken sind zentrale Elemente der Personalentwicklung. Die so dringend benötigten Musterbrecher und klugen Köpfe in unseren Unternehmen bestechen mit diesen Sekundärtugenden. Diese machen den Unterschied. Wer Muster brechen will, muss Muster erkennen können, sich öffnen, teilhaben, und verstehen lernen – es braucht eben Kontextkompetenz. Mut zum Denken in Ecken und Kanten sollte daher in österreichischen Unternehmen vorherrschen. Das braucht weniger Expertentum, sondern vielmehr kindliche Neugierde und den Willen zur kontrollierten, positiven Anarchie. Wir brauchen wieder mehr Widerspruch und Streitkultur in unseren Betrieben, aber weniger Harmoniesucht, Anbiederung und Chefwitzlacher. Mitarbeiter werden diesen Weg mitgehen, wenn dieser angstfrei und absichtsarm gestaltet wird, und Führungskräfte als Moderatoren. Für all das hat das moderne Personalwesen Antworten zu finden und Rahmenbedingungen zu setzen. Fangen wir jetzt damit an!
Der Autor: Mag. Dr. Markus Tomaschitz, MBA ist seit 2013 HR Director bei AVL List GmbH in Graz. Davor war er Executive Director der Magna Education and Research GmbH sowie Mitglied des European Board of Magna International Europe AG. 2002-2006 war er Direktor und Geschäftsführer der FH JOANNEUM in Graz. Er ist seit vielen Jahren im Fachbeirat der PoP.
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Der Artikel erschien zuerst im „Karrieren-Standard“