Das Projekt TeleView für Flüchtlinge hat das Ziel, die medizinische Versorgung von Flüchtlingen durch Ärzte mit Migrationshintergrund via Telemedizin zu optimieren.
Eine große Problematik der medizinischen Versorgung besteht in den sprachlichen und kulturellen Barrieren, die zu hohen Zeitaufwänden, Wartezeiten und hohen Kosten in Arztpraxen, Krankenhäuser und Unterkünften führen. Wir begegnen der Thematik mit der Überlegung, dass bereits zahlreiche Ärzte mit Migrationshintergrund erfolgreich in der deutschen Gesellschaft Fuß fassen konnten. Die Telemedizin bietet hier die Möglichkeit, diese Ärzte trotz räumlicher Entfernung per Videokonferenz für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen.
Das Zentrum für Telemedizin Bad Kissingen installiert hierfür eine sichere und stabile Kommunikationsinfrastruktur und kümmert sich um die technisch-organisatorische Konzeption, Umsetzung und den Betrieb. Die Neurologische Klinik Bad Neustadt verantwortet die medizinische Konzeption. Vor Ort hat das Bayerische Rote Kreuz die Betreuung vor Ort in der Notunterkunft Bad Kissingen sichergestellt.
Sicherstellung der medizinischen Versorgung
TeleView für Flüchtlinge setzt an drei wesentlichen Bereichen der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen an:
- Erstaufnahmestellen und dezentrale Unterkünfte können auf Ärzte unterschiedlicher Fachgebiete, Nationen und Kulturen zugreifen. Ihre Dolmetscher können sie stattdessen für ihre ursprünglich gedachten Aufgaben bei Behördengängen und Übersetzungen einsetzen.
- Arztpraxen und Krankenhäusern können ihre Effizienz und Versorgungsqualität verbessern, da per Videokonferenz der medizinischer Experte mit Muttersprache auf Deutsch übersetzt, eine vollständige Anamnese erhebt und bei der Diagnose beratend tätig ist.
- Psychiatern bzw. Psychologen erleichtert TeleView den Zugang zu Flüchtlingen mit psychosozialen bzw. psychosomatischen Betreuungsbedarf, um sie bei ihrer Krisenbewältigung und Integration in den Alltag zu unterstützen und spätere Verhaltensauffälligkeiten zu vermeiden. Darüber hinaus lassen sich auch Jugendämter integrieren, um auch jugendliche Flüchtlinge bei der Bewältigung ihrer Erlebnisse zu unterstützen.
Ablauf der Videosprechstunde
Die Behandlung per Videosprechstunde erfolgt stets mit Anwesenheit einer medizinischen Fachkraft vor Ort, entweder mit dem Arzt in Krankenhaus oder Arztpraxis oder mit einer Pflegefachkraft oder einem Notfallsanitäter in einer Unterkunft. Mit Hilfe des TeleView Anamnesebogens, den jeder Flüchtling über seine Unterkunft auf Papier erhält und/ oder als App herunterlädt, können sie die relevanten Details ihrer Krankengeschichte in ihrer Muttersprache erfassen. Da ausschließlich Multiple-Choice-Fragen gestellt werden, ist das Formular direkt in mehreren Sprachen gleichzeitig darstellbar. Eine Übersetzung ist damit nicht notwendig. Der Betreuer vor Ort ordnet Patient und TeleView Arzt nach passendem sprachlichem und kulturellem Hintergrund im Terminmanagement zu. Auf Wunsch des Patienten kann bei Bedarf der Betreuer vor Ort den Raum temporär verlassen, um so die Bewahrung von Patientengeheimnissen sicherzustellen.
Unterstützt durch diese ärztliche Empfehlung entscheidet der Betreuer vor Ort die weiteren Schritte. In ähnlicher Weise erfolgt die Unterstützung in Arztpraxen und Krankenhäusern.
Erfahrungen aus dem Pilotbetrieb
Die Pilotierung startete im Februar in der Notunterkunft Bad Kissingen mit dem Bereitschaftsdienst von zwei arabisch sprechenden Fachärzten (Anästhesie, Neurologie). Nach ersten Tests verstärkten das Ärztenetzwerk im April 2016 zwei Fachärzte für Psychiatrie, die Arabisch und Farsi sprechen. Bislang bearbeiteten sie über 70 Fälle. Nach Abschluss des Pilotbetriebs im Juni 2016 ist die Ausweitung auf weitere Unterkünfte, Arztpraxen und Krankenhäuser mit Einbindung von ca. 30 TeleView Ärzten geplant. Aufgrund des hohen Engagements der Ärzte liegen die Kosten für die TeleView Dienstleistung deutlich unter Dolmetschern und auch knapp unter den Angeboten von Videodolmetscherdiensten.
Die im Folgenden aufgeführten zwei Fallbeispiele zeigen, repräsentativ für die Vielzahl der durchgeführten Videosprechstunden, die Wirkungsmöglichkeiten von TeleView auf.
Der erste Fall betrifft eine 33 Jahre alte Frau aus Syrien mit zwei Kindern. Sie war zum Untersuchungszeitpunkt im siebten Monat schwanger. Vor TeleView hatte sie bereits eine Vorstellung beim Hausarzt und Gynäkologen in Deutschland. Ein Übersetzer vom Landratsamt berichtete ihnen, dass die Frau schon Problem bei ihren letzten beiden Schwangerschaften bei der Entbindung hatte. Grund sei eine unbekannte familiäre Erkrankung. Dem folgten dann weitere Vorstellungen bei anderen Gynäkologen, allerdings ohne weitere Orientierung bzgl. der Vorgeschichte. Mit Start des TeleView Projektes erfolgte eine Vorstellung bei einer arabisch sprechenden TeleView Ärztin in der Notunterkunft. Hierdurch stellte sie aufgrund der Muttersprache und der Kenntnis zu familiär genetischen Vorerkrankungen aus Syrien fest, dass bei der Patientin familiär eine Thalassämie bekannt ist und für die letzten beiden Entbindungen Bluttransfusionen notwendig waren. Diese Information konnte im Rahmen einer Videosprechstunde von 15 Minuten erfasst werden. Ihr Hausarzt und ihr Gynäkologe waren für diese Information dankbar. Kürzlich erfolgte die Entbindung, es waren zwei Bluttransfusionen erforderlich. Mutter und Kind sind wohlauf.
Beim zweiten Fall besuchte der Patient mit Angabe von multiplen Beschwerden und Schmerzen die TeleView Videosprechstunde. Allerdings war der Patient bezüglich seiner Angaben nur schwer zu befragen und schweifte immer wieder in Klagen über seine aktuelle Situation ab. Dennoch konnte mit Rückfragen in der Muttersprache eine Schlafstörung, Gewichtsabnahme, Antriebslosigkeit und ausgeprägte Morgen-Tief-Beschwerden erkannt werden. Darüber hinaus berichtete er über die beschwerliche Flucht in einem Boot von der Türkei aus, sowie die damit verbundenen Ängste. Der Patient stellte gegenüber der TeleView Ärztin selbst einen Zusammenhang zwischen seinen Erlebnissen und den Beschwerden her. Daraus ergab sich der Bedarf für eine psychosomatische Behandlung. Leider lehnte der Patient, trotz des einfühlsamen Gesprächs, eine solche Behandlung ab.
Die zwei Beispiele zeigen auf, dass der TeleView Ansatz helfen kann, die Anamnese genauer zu prüfen und die Patienten auch zur weiteren Behandlung und Therapie zu motivieren. Allerdings konnten auch erwartungsgemäß Ablehnungen beobachtet werden, so dass TeleView nicht immer zu einem Behandlungserfolg führen kann. Dennoch nehmen die Autoren und die Projektbeteiligten an, dass auch bei diesen Fällen eine Beratung durch die TeleView Ärztin evtl. eine Linderung erreicht und zumindest die Situation im Sinne des Patienten geklärt werden konnte. Der Ansatz ersetzt keine ärztliche Tätigkeit. Vielmehr zeigt er auf, wie Telemedizin in enger Zusammenarbeit mit Ärzten und anderem medizinischen Fachpersonal gelingen kann.
Fazit
Von den Beteiligten wird der Ansatz positiv bewertet und als Erleichterung wahrgenommen. Für den Rettungsassistenten als Betreuer vor Ort in der Notunterkunft stellt die Beratung eine höhere Sicherheit und eine Verbesserung der Verständigung mit den Flüchtlingen dar. Die knappe Ressource der Dolmetscher bzw. Übersetzer kann das Landratsamt ausschließlich angesichts seiner ursprünglich gedachten Aufgabe wie z.B. Behördengänge schonen. Die hohe Teilnehmerquote gibt Aufschluss über die Akzeptanz bei den Flüchtlingen selbst. In Interviews äußerten sie ihre hohe Zufriedenheit. Die beteiligten Ärzte in der Region empfinden den Einsatz als Entlastung, da sie eine ausführliche Anamnese und Problembeschreibung auf Deutsch erhalten, und damit konkrete Anhaltspunkte aufgreifen können.
Dr. Asarnusch Rashid, Layal Shammas, Daniela Schaupp (Zentrum für Telemedizin Bad Kissingen)
Dr. Hassan Soda, Naghram Soda (Neurologische Klinik Bad Neustadt) spricht am 20./21. Oktober 2016 auf dem 8. E-Health Forum in Mauerbach bei Wien über das Projekt TeleView.