Business Circle: Herr Heilbronn, Sie sind Leiter der Abteilung Aufsicht und Gesundheitsberufe im Gesundheitsamt des Kantons Bern. Sie haben bezüglich der Pflegesituation einen Leitsatz: Wir bilden aus, wen wir brauchen. Wie ist das zu verstehen?
Danny Heilbronn: Wir haben zuerst versucht einzuschätzen, wie viel Gesundheitsfachpersonal im Kanton Bern überhaupt benötigt wird. Dazu haben wir eine Art Versorgungsplanung, die uns aufzeigt, was wir an Abschlüssen pro Jahr – theoretisch - brauchen. Diese berechnete Zahl haben wir anschließend mit dem Ist-Zustand verglichen und festgestellt, dass es hier eine große Kluft zwischen dem was wir brauchen und dem was wir ausbilden, gibt. Wir haben also Wege gesucht, wie wir alle Akteure im Kanton Bern in diese Aufgabe einbeziehen können. Zu allererst haben wir auf das Ausbildungspotenzial der Betriebe geschaut und festgestellt, wenn wir dieses Ausbildungspotenzial ausschöpfen, können wir bis zu einem Drittel mehr ausbilden. Das funktioniert natürlich nur, wenn wir alle beteiligten Institutionen einbeziehen, nur so können wir mitwirken, das auszubilden, wen wir brauchen.
BC: Wie ist hier der Ansatz? Werden hier alle Betriebe zur Ausbildung verpflichtet?
Ja. Wir haben dafür eine gesetzliche Grundlage geschaffen, die tatsächlich eine Pflicht beinhaltet, als Betrieb das Ausbildungspotenzial auszuschöpfen. Das wird auch genau berechnet, nämlich über die im Betrieb arbeitenden Fachkräfte und es ist eigentlich eine Reproduktionsquote. D.h. was muss geschehen, damit wir das bestehende Personal reproduzieren können. Das lässt sich anhand von Stellenplänen berechnen. Als Beispiel: Pro 100 Stellenprozent Pflege, müssen in einem Spital 11,9 Ausbildungswochen in der Pflege geleistet werden.
BC: Wie wird oder wurde dieses Konzept betriebsintern angenommen?
Im Kanton Bern sind etwa 350 Institutionen verpflichtet, d.h. alle Spitäler, alle Alters- und Pflegeheime, alle Hilfe und Pflege Zuhause-Einrichtungen. Die Akzeptanz war immer sehr gut, denn man hat verstanden, dass es von Seiten der Behörde nicht mit etwas zu tun hat, das nicht der betrieblichen Realität entspricht. Wenn man sagt, wir bilden aus, wen wir brauchen, ist es klar, dass die ausgebildeten Fachkräfte nicht für die Behörde, sondern für die jeweiligen Institutionen arbeiten. Ein wichtiger Punkt war aber auch, dass diese Regelung für alle 350 Betriebe gilt und das hat die Akzeptanz zusätzlich gesteigert. Früher war das anders, da gab es Betriebe, die sich für die Ausbildung enorm engagiert haben, andere wiederum gar nicht, das hat zu massiven Unruhen geführt. In den vergangenen acht Jahren hatten wir eine einzige Beschwerde gegen diese Verfügung und das zeigt, dass die Akzeptanz flächendeckend sehr hoch ist. Man muss aber fairerweise dazu sagen, dass jene Betriebe, die diese Ausbildungsverpflichtung nicht erfüllen, hohe Strafen zahlen müssen. Wir versuchen aber dieses Modell möglichst fair zu gestalten und so ist es z.B. möglich, dass Betriebe ihre Ausbildungsleistung mit anderen Betrieben teilen können.
BC: Können Sie mit diesem Konzept den Versorgungsauftrag in der Pflege erfüllen?
Nein! Das können wir selbstverständlich nicht. Aber das hat nichts mit den Regelungen zu tun, sondern mit dem enormen Bedarf der herrscht. Was wir aber schon feststellen ist, dass wir keine weiteren Ressourcen übrighaben, d.h. wir können keine weiteren Fachkräfte ausbilden. Wir tun was wir können. Wir stellen aber auch fest, dass dies immer noch nicht genug ist, allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung und der Überalterung in der Schweiz. Wir behelfen uns damit, dass wir ausländisches Pflegepersonal in das Land holen, genauso wie das andere europäische reiche Länder machen.
BC: Stichwort Pflegeausbildung: Wie sieht diese in der Schweiz aus?
Die große Bildungsreform war 2000, die für die Ausbildung in der Pflege eine Dreifaltigkeit vorsieht: Ein direkter Einstieg nach der 9. Klasse in eine Berufslehre für Fachmänner und Fachfrauen Gesundheit. Weiters, wer kein Abitur hat, kann dann eine höhere Fachschule Pflege besuchen, wenn man die Lehre davor gemacht hat, wird diese Ausbildung um ein Jahr verkürzt. Wer Abitur hat, kann auf die Fachhochschule für Pflege gehen. Auf der Fachhochschule wird die „Pflegeelite“ ausgebildet, das sind auch jene, die später Lehrende sind. Das Groß jedoch wird auf der mittleren Stufe, also der höheren Fachschule Pflege ausgebildet. Ein großes Problem ist, dass die Ausbildung nicht überall die gleiche in der Schweiz ist, z.B. in der Westschweiz wird nur auf Ebene Fachhochschule ausgebildet. Eine nationale Strategie ist hier noch schwierig. Im Moment ist jedoch ein nationales Großprojekt am Laufen (Organisation Arbeitswelt), das mit wissenschaftlichen, aber auch mit Blick auf das Arbeitsfeld, eine nochmalige Reform der Pflegeausbildung anstrebt. Das Ziel ist: Abschlüsse zu haben, die den heutigen Aufgaben in den Pflegehäusern näherkommt.
BC: Stichwort Pflegelehre: In wie weit ist diese für die jungen Leute (15) überhaupt geeignet, also wie gehen sie mit den Anforderungen um? Gibt es dazu Erfahrungswerte?
Diese Lehre hat bei uns 2002 begonnen. Die Diskussion darüber war anfangs heftig, vor allem ging es darum, ob man Leute diesen Alters überhaupt in die direkte Betreuung und Pflege geben darf. Die einhellige Meinung war damals: Nein. Die Ausbildung wurde insofern adaptiert, dass das erste Ausbildungsjahr in der Schule verbracht wurde. Das duale Modell ist also erst ab dem zweiten Jahr in Kraft getreten. Die Rückmeldung aus den Betrieben hat aber wieder zu einem Umdenken bewegt, denn es war von ihrer Seite unverständlich, warum die jungen Leute nicht gleich mit dem ersten Ausbildungsjahr in die Praxis involviert werden, denn sie würden das sehr wohl können und auch wollen. So kam es 2006 zu einer erneuten Überarbeitung des dualen Ausbildungskonzeptes, das nun vorsieht, bereits im ersten Lehrjahr in die Institutionen zu gehen. Die Ausbildung ist bei den Jugendlichen beliebt, sie finden eine Lehrstelle und haben nach der Lehre keine Probleme eine Arbeitsstelle zu finden. Die Response aus den Betrieben ist gut. Die Abbruchquote bei dieser Lehre ist nicht höher als bei anderen Lehrberufen.
BC: Wie schafft man es, den Pflegeberuf attraktiv zu gestalten.
Wichtig ist, dass die Ausbildung als gleichwertig gegenüber anderen Berufen angesehen wird. Es soll auch vermittelt werden, dass dieser Bereich ein sinnstiftender ist. Das geht natürlich mit Wertschätzung einher, sei es monetär oder auch anders. Die Lohnfrage ist eine permanente Frage. Wichtig wird auch die Planung einer Laufbahn und Karriere sein. Hier ist es wichtig, Aussichten auf Karriere zu liefern. Auch die Berufsverweildauer ist ein wichtiges Thema und es sollte deutlich mehr Augenmerk daraufgelegt werden, wie man die Leute im Beruf halten kann. Dazu haben wir eine interessante Kennzahl: Wenn die Fachkräfte ein Jahr länger in ihrem Beruf bleiben würden als der Durchschnitt, dann müssten wir 5 % weniger ausbilden. Das ist natürlich keine Arbeit mehr, die von den Behörden ausgeht, das bleibt bei den Betrieben, die versuchen müssen, ihre Mitarbeitenden zu halten.
BC: Vor allem zu Beginn der derzeitigen Pandemie gab es enorme Wertschätzung des Pflegepersonals, die nach und nach abgenommen hat. Wie war das in der Schweiz?
Die Pandemie hat sicher geholfen zu sehen, welche Leistung diese Berufsgruppe bringt. Ich denke aber nicht, dass die Wertschätzung abgenommen hat, sondern sie hat sich auf andere Berufsgruppen ausgeweitet. Die Grundhaltung ist die gleiche geblieben. Im Moment geht es eben mehr um die Lohndebatte und das ist wieder ein gesellschaftliches Thema. Die Anerkennung der Leistung ist ungebrochen, auch die Ausbildungszahlen steigen.
BC: Können Sie uns noch kurz etwas über das Do it Yourself Hospital erzählen? Was hat es damit auf sich?
Wir hatten Versorgungsprobleme bei den Gesundheitsberufen sowie Probleme mit der Finanzierung, aber niemand hat über den Bedarf gesprochen. Es waren monetäre Anreize: Wenn ihr was tut, bekommt ihr Geld. Also die Ausbildungsleistung der Betriebe anzuerkennen. Das war der erste Schritt, den wir eingeleitet haben, um mehr Ausbildungsplätze zu bekommen. Das hat anfangs gut gewirkt. Wir haben aber sehr schnell realisiert, dass mehr Geld nicht zwangsläufig mehr Leistung bedeutet. Dann haben wir zu der gesetzlichen Pflicht der Ausbildungsleistung umgeschwenkt. Der Werbefilm sollte die Problematik aufzeigen, worum es geht. Denn, wenn wir nicht handeln, dann werden wir vor dem Problem stehen, uns selber betreuen und versorgen zu müssen, weil das Personal fehlt. Der Film war also sozusagen unser Kommunikationsmittel zu Beginn der Sensibilisierungskampagne. Er war in erster Linie für die Geschäftsleitungsebene gedacht.
BC: Herr Heilbronn, herzlichen Dank für das Interview.
Fazit: Alle müssen zusammenhelfen, auch die Behörde hat hier eine wesentliche Rolle, aber wichtig ist, alle Akteure ins Boot zu holen.
Veranstaltungstipp:
Pflege-Management Forum am 2. / 3. September 2021