BC: Worum geht es bei Process Mining und warum ist das Ihrer Meinung nach wichtig für Unternehmen?
van der Aalst: Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein bisschen weiter ausholen. Als ich begonnen habe mich mit Prozessen auseinander zu setzen, arbeitete ich im Bereich der Prozessmodellierung, also sehr abstrakte Sachen. In den 1990er Jahren habe ich erkannt, dass das Workflowmanagement immer wichtiger wird. Dazu habe ich übrigens auch das erste Lehrbuch geschrieben, die erste wissenschaftliche Konferenz dazu gemacht und das Fachgebiet entwickelt. Ich war von Anfang an begeistert von den Workflowmanagementsystemen und dachte, dass jede Firma so ein System hat. Die Realität sah jedoch anders aus, denn Prozessmanagement (PZM) ist kompliziert.
Viele Firmen haben begonnen mit PZM zu arbeiten, sind aber vorerst daran gescheitert. Die Gründe dafür waren ganz einfach: Es wurden die Abläufe modelliert und die Prozesse beschrieben, aber die Prozesse dahinter sind eigentlich viel komplexer und blieben unbetrachtet. Prozessmanagement ist kompliziert.
Nehmen wir als Beispiel einen einfach klingenden Prozess wie Order-to-Cash (O2C), also eine Zahlungsaufforderung an den Kunden. Das klingt als Außenstehender relativ einfach, in Wirklichkeit stecken hinter diesem Prozess in großen Unternehmen jedoch 900.000 Varianten. Das bedeutet also, tagtäglich laufen in Unternehmen hochkomplexe Prozesse ab, die eine große und natürlich sehr komplexe Datenmenge liefern. Mit dem Process Mining haben wir nun die Möglichkeit, die tatsächliche Komplexität zu verstehen und in schlüssige Abläufe zu bringen. Man erkennt so, wo es Abweichungen gibt, wo Engpässe sind oder wie lange einzelne Arbeitsschritte tatsächlich dauern.
BC: Das heißt, Firmen sollten sich von dem klassischen PZM verabschieden?
van der Aalst: Ja, ich beobachte, dass das klassische Business PZM weniger wird, in vielen Firmen ist es sogar negativ behaftet, weil die Daten dahinter unstrukturiert sind oder Zusammenhänge nicht erkannt werden. Ein weiteres Problem ist auch, dass die von Hand erstellten Prozessmodelle von der Realität getrennt sind. Prozessmodelle, die nicht mit den Daten in den Informationssystemen verbunden sind, werden nicht ernst genommen. Sie werden zu einer Art „wallpaper“. Es ist zu berücksichtigen, dass das datenorientierte Business PZM wichtig und letztlich auch erfolgreich ist. Das muss deutlich gemacht werden. Im Moment stelle ich jedoch eine Wende von modellorientiert zu datenorientiert fest und hier ist Process Mining die Verbindung. Heutzutage verwenden fast alle großen Firmen Process Mining, mittlerweile gibt es auch schon 35 Anbieter von Softwarelösungen dafür.
BC: Wo sehen Sie die größten Stolpersteine im Moment, um Process Mining in Unternehmen einzuführen?
van der Aalst: In erster Linie sind es die Daten und vor allem die Datenqualität. Man benötigt ca. 80 % der Zeit für das Auffinden und Extrahieren der Daten, erst die verbleibenden 20 % verwendet man für Process Mining. Aber, beim Process Mining werden häufig Probleme mit der Datenqualität festgestellt, die dringend behoben werden müssen. Natürlich ist das kostspielig und auch zeitaufwändig, aber auf lange Sicht gesehen, müssen diese Probleme behoben werden. Das ist auch ganz unabhängig davon, ob Process Mining verwendet wird oder nicht, aber mit Process Mining kann man leichter Schwachstellen erkennen.
BC: Welche Rolle spielt hier Künstliche Intelligenz?
van der Aalst: Wenn Leute über Künstliche Intelligenz (KI) sprechen, dann ist das schon etwas verwirrend. Es gibt durchaus Teilbereiche, bei denen KI Sinn ergibt, denken wir nur an Siri oder Alexa. Aber gerade bei Process Mining ist diese Anwendung nicht nützlich. Viele Firmen denken, sie müssten etwas mit KI machen, wissen aber nicht was und vor allem wie. PZM ist eine Aufgabe für jede Firma und dort spielt KI keine Rolle. Natürlich versuchen auch Softwarelieferanten mit KI zu punkten, weil sie denken, ihre Produkte ließen sich dann besser verkaufen. In Wirklichkeit ist es aber so, dass sie Algorithmen verwenden, die es bereits vor 30 Jahren gab, nur weiß das eben kaum jemand.
„Wenn Leute über Künstliche Intelligenz sprechen, dann ist das schon etwas verwirrend.“
BC: Viel wird auch über die digitale Transformation in Firmen gesprochen. Welchen Stellenwert nimmt hier Process Mining ein?
van der Aalst: Process Mining kann sehr hilfreich sein, aber es kommt immer darauf an, wo die Firma gerade steht. Gibt es auf Datenebene Probleme, dann ergibt es keinen Sinn über andere Dinge wie Künstliche Intelligenz oder digitale Transformation zu sprechen. Den Stellenwert von Process Mining kann man am besten mit einem Art Hygieneprozess erklären. Denken Sie z.B. an das Händewaschen: Zuerst sind die Hände schmutzig und man muss als erstes versuchen, die Hände sauber zu bekommen. Mit Process Mining ist es ähnlich, denn man sieht sofort wo „unsaubere“ Daten und Prozessen sind, was falsch läuft oder wo Engpässe sind. Dort setzt man an und macht - genau wie beim Händewaschen - eine Art Hygiene.
Bei der Anwendung von Process Mining sehen wir häufig Organisationen, in denen 60 % aller Fälle vom vereinbarten Prozess abweichen. In solchen Situationen ergibt digitale Transformation natürlich keinen Sinn, aber Process Mining wiederum kann dabei helfen, den Beginn einer digitalen Transformation einzuläuten.
Wil van der Aalst ist Professor an der RWTH Aachen und leitet die Gruppe Prozess- und Datenwissenschaft (PADS). Er ist besser bekannt als der „Godfather of Process Mining“ und einer der am häufigsten zitierten Informatiker der Welt (H-Index von 154). Er hat über 250 wissenschaftliche Artikel, 20 Bücher und 80 Buchkapitel veröffentlicht. Er gilt als einer der führenden Experten für Process Mining, Geschäftsprozessmanagement, Workflow-Management, Simulation, Parallelität und Prozessmodellierung.
Prof. Wil van der Aalst wird bei der virtuellen Konferenz Prozess-Management mehr über Process Mining und dessen sinnvollen Einsatz sprechen.