Business Circle: Sehr geehrter Herr Schilbe, André Kostolany wird das Zitat zugeschrieben: "Inflation ist zunächst ein laues Bad, dann wird das Wasser immer heißer, und am Schluss explodiert die Wanne". Werden wir es noch schaffen, den Hahn rechtzeitig zuzudrehen? Welche Maßnahmen halten Sie im Moment für geboten, um die Inflation zu senken?
Stefan Schilbe: Ob die Wanne explodiert, hängt letztlich vor allem von der Bereitschaft der Europäischen Zentralbank (EZB) ab, nach einer Phase der ultraexpansiven Geldpolitik restriktiver zu werden, um die langfristigen Inflationserwartungen in Schach zu halten. Natürlich können Zentralbanken gegen einen Ölpreisanstieg oder pandemiebedingte Verwerfungen bei den Lieferketten zu nächst wenig ausrichten. Aber die Gewerkschaften dürften verständlicherweise versuchen, als Kompensation für die Kaufkraftverluste Lohnsteigerungen durchzusetzen. Angesichts einer rekordtiefen Arbeitslosenquote in der Eurozone von 6,8 Prozent (März) ist das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale in den letzten Monaten nicht kleiner geworden. Über Zweitrundeneffekte, könnte sich die Inflation auch länger oberhalb des Notenbankziels festsetzen. Daher sind Zinserhöhungen dringend geboten – es darf nicht vergessen werden, dass wir aktuell ja noch negative Leitzinsen (Einlagensatz bei -0,5 Prozent) haben. Bei einer Inflation von 7,4 Prozent (Harmonisierter Verbraucherpreisindex HVPI) im Mai ist das nicht angemessen, selbst wenn man berücksichtigt, dass es durchaus konjunkturelle Abwärtsrisiken gibt.
BC: Die „gefühlte“ Inflation weicht ja manchmal von der gemessenen ab. Verschiedenen Messgrößen haben eine unterschiedliche Aussagekraft über Nachhaltigkeit und Eintritt der Inflation. Was ist Ihrer Meinung nach die beste Messgröße für das Inflationsgeschehen?
Schilbe: Es gibt eine Vielzahl von Inflationsmaßen, die alle ihre Berechtigung haben. Solange beispielsweise ein Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise durch kurzfristige Schocks begründet ist, kann man durchaus auf die Kernrate schauen, die aktuell mit 3,5 Prozent deutlich niedriger als der HVPI liegt, an dem die EZB ihre Politik ausrichtet. Die Menschen schauen aber nicht auf eine Kernrate – ihr Inflationsempfinden wird vor allem von den Gütern und Dienstleistungen geprägt, die regelmäßig und häufig konsumiert werden. Aktuell ist die Sorge vor dauerhaft höherer Inflation groß, weil viele Güter des täglichen Lebens spürbar kostspieliger werden. Das kann die EZB nicht außer Acht lassen.
BC: Wie würde für Sie in den nächsten zwei Jahre ein sehr optimistisches, ein eher realistisches und ein worst-case Inflationsszenario aussehen und mit welchen Wahrscheinlichkeiten denken Sie, was eintreten könnte?
Schilbe: Sehr optimistisch wäre ein Rückgang auf die Vorpandemieniveaus von unter 2 Prozent. Ich befürchte aber, dass die Inflation mit Blick auf die die Probleme bei den Lieferketten und die damit verbundenen Kostenschübe trotz der zu erwartenden Basiseffekte bei den Rohstoffpreisen (Stichwort: Energie) nicht so schnell zurückgeht, sondern auch 2023 mit 2,8 Prozent deutlich oberhalb des EZB-Ziels liegt. Im Falle eines Gasembargos oder eines Lieferstopps von Rußland wäre das ohnehin Makulatur, da dann die Inflation wahrscheinlich temporär kräftig anziehen würde. Die privaten Haushalte träfe das zur Unzeit.
BC: Was erwarten Sie im Basisszenario für den Immobilienmarkt?
Schilbe: Schon jetzt hat sich die Stimmung für die Bauindustrie spürbar eingetrübt. In Deutschland beispielsweise waren die Geschäftsaussichten in Bau im April so negativ wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Das reflektiert sowohl gravierende Engpässe bei Material und Fachkräften, aber auch den fulminanten Anstieg der Finanzierungskosten. Für Käufer wird das Umfeld damit weniger komfortabel: Sie werden mit massiv anziehenden Baukosten (auch zur Erfüllung der energetischen Vorgaben) konfrontiert, was die Preise für Bestandsimmobilien zusätzlich treibt und steigende Ausgaben für Gas, Heizöl und Strom reißen ein zusätzliches Loch ins Portemonnaie. Dazu kommt, dass in vielen Ländern die Immobilienmärkte gemessen am Preis-Miet- oder Preis-Einkommensverhältnis nicht mehr günstig sind. Nicht jeder künftige Käufer wird sich daher bei den gestiegenen Hypothekenzinsen ein Haus oder eine Wohnung leisten können – die ein oder andere Finanzierung wird dann nicht zustande kommen. Auf der positiven Seite seht aber auch die grundsätzlich gute Situation auf den Arbeitsmärkten, vor allem in Deutschland und Österreich. Das birgt das Potential für Lohnsteigerungen, die im Zeitablauf die Schuldenlast erträglicher machen. Unter dem Strich dürfte sich die Preisdynamik am Immobilienmarkt spürbar abflachen.
BC: Skylla und Charybdis – halten Sie derzeit Rezession oder Inflation für das größere Problem und wie schätzen Sie die mittelfristige Entwicklung von Geldpolitik und Konjunktur in der Eurozone ein?
Schilbe: Aktuell ist Inflation sicher das größere Problem, sie könnte aber perspektivisch auch zu einem großen Problem für die Konjunktur werden. Zuletzt hatte sich die Konsumentenstimmung kriegs- und inflationsbedingt bereits spürbar eingetrübt und auch die Unternehmen sind merklich zurückhaltender bezüglich ihrer Geschäftsaussichten geworden. Kurzfristig sehen wir aber klare Aufholeffekte, nachdem fallende COVID-19 Infektionszahlen den Staaten eine Lockerung bzw. die gänzliche Abschaffung der Restriktionen erlaubt hat. Davon profitiert vor allem der Dienstleistungssektor, also alles was mit Freizeit, Restaurants oder auch Tourismus zu tun hat. In der Summe dürfte die Eurozone also moderat wachsen. Die EZB wird in dieser Gemengelage nicht umhinkommen, die Geldpolitik zu straffen. Wir rechnen mit einer Beendigung des Anleihekaufprogramms im Juni und dem Beginn des Zinserhöhungszyklus im Juli um 25 Basispunkte. Dem dürften dann drei weitere Anhebungen beim Einlagensatz in gleicher Höhe im September Dezember und März 2023 folgen.
Es ist grundsätzlich immer noch sinnvoll, eine Immobilie zu erwerben.
BC: Das Ganze einmal von der anderen Seite betrachtet: Würden Sie Familien, welche einen Kredit aufnehmen müssten, jetzt empfehlen, ein Haus zu bauen oder eine Eigentumswohnung zu erwerben?
Schilbe: Das hängt wesentlich von der individuellen Finanzsituation ab und natürlich auch von der Region und Lage, wo man die Immobilie erwerben möchte. Der massive Anstieg der Finanzierungskonditionen am aktuellen Rand macht den Erwerb sicherlich nicht einfacher. Wenn man langfristig orientiert ist, über genügend Eigenkapital verfügt also die Finanzierung nicht „auf Kante genäht“ ist , erscheint der Erwerb einer Immobilie im Grundsatz aber immer noch sinnvoll, zumal im Zeitablauf das ja auch die Alternative des Mietens teurer werden dürfte und im günstigen Fall das Einkommen steigen könnte.
BC: Hoffen wir alle, dass der Krieg in der Ukraine bald beendet sein möge – der Wiederaufbau wird auf jeden Fall gigantische Summen verschlingen. Steht da schon der nächste Inflationstreiber vor der Tür?
Schilbe: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich die Kosten kaum abschätzen, aber die Nachfrage nach Rohstoffen und Baumaterialen dürfte wiederaufbaubedingt natürlich steigen. Gleichzeitig könnte eine Beendigung des Kriegs aber auch für eine Beruhigung der Energiepreise sorgen, was für die Inflationsperspektiven von größerer Bedeutung wäre.
BC: Sehr geehrter Herr Schilbe, wir danken Ihnen für das Gespräch und freuen uns auf ein Wiedersehen zum Real Estate Circle in Stegersbach!
Diplom-Volkswirt Stefan Schilbe verantwortet als Chefvolkswirt von HSBC Deutschland seit 2001 das „Treasury Research“. In dieser Funktion steht er Unternehmen, institutionellen und privaten Investoren bei Kapitalanlagen und Finanzierungen beratend zur Seite. Weiters ist er u.a. Mitglied im „Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik“ des Bundesverbands deutscher Banken, in der „Chief Economist‘s Group“ der European Banking Federation. Seit vielen Jahren eröffnet er den Real Estate Circle mit einer Markteinschätzung und einem Konjunkturbarometer, so auch am 9. Juni 2022.
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