Business Circle: Sehr geehrter Herr Kreutner: Unser letztes Interview war im Oktober 2019. „Corona” war damals für manche ein Sternbild und für andere eine Biermarke. Was hat sich seitdem – abgesehen von COVID-19 und Lockdown – in der Compliance- und Antikorruptionslandschaft getan? Und welches waren die Auswirkungen von COVID-19 auf die Compliance-Landschaft?
Martin Kreutner: Es hat sich doch einiges getan. Manches gut, manches eher problematisch. Lassen Sie mich mit dem Positiven beginnen: Ich wage die Behauptung, Compliance und Antikorruption sind in den letzten Jahren „erwachsen“, sind zu einem gewissen Maß selbstverständlich geworden, zumindest als unternehmerisches Postulat und auch als Teil der unternehmerischen Struktur. Auch die verstärkte Hereinnahme des Themenkomplexes der Menschenrechte in das Compliance-Portfolio halte ich für – noch - begrüßenswert und sinnvoll. Auf der internationalen Ebene sehen wir u.a. die bis heuer im Dezember abzuschließende Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie sowie im Juni erstmals überhaupt eine Spezielle Session der UN-Generalversammlung, die sich ausschließlich der globalen Korruptionsbekämpfung widmen wird. In der Legistik wird es Deutschland hoffentlich zu einem „Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“ schaffen, Lieferkettengesetze sind in mehreren europäischen Staaten in der Diskussion, auch wenn es dazu erst kürzlich in der Schweiz einen Rückschlag gegeben hat und in Summe wohl noch breiterer Diskurs nötig ist.
Weniger erfreulich und damit problematisch sehe ich die zunehmende, manchmal schon fast uferferne Überfrachtung der Compliance mit Themata genereller „(Firmen)Politiken“. Vereinfacht gesprochen hat Compliance als betriebswirtschaftliches Pendant zur öffentlichen Korruptionsbekämpfung vor knapp zwei Jahrzehnten begonnen. Heute hat man aber manchmal den Eindruck, dass statt thematischer Tiefe vermehrt auf verflachende Quantifizierung gesetzt wird. Man sollte vor diesem Hintergrund auch vereinzelte Warnrufe nicht abtun, die vor einer potentiellen Gefahr der Instrumentalisierung von Compliance als allgemeine Betriebspolizei warnen. Und dass wir selbst im originären Feld der Antikorruption noch viel zu tun hätten, legen nicht nur die Schlagworte „Wirecard“, „Ibiza“, und „Novomatic“ nahe, sondern wohl auch jüngste tagespolitische Ereignisse in etwa Deutschland, Österreich, oder anderen europäischen Staaten.
Betreffend unmittelbare Auswirkungen darf COVID-19 auf der Ebene der Unternehmungen nicht dazu missbraucht werden, dass unter einem vermeintlichen oder echten Krisen-Duktus Compliance in eine prioritäre Nebenrolle entsorgt wird. Gesamtstaatlich gilt es wohl auch argusäugig zu beachten, dass die derzeitige causa prima nicht auf Dauer die Fundamente von Demokratie sowie Grund- und Menschenrechten schleichend unterspült.
alle neuerungen auf einen blick?
BC: Werden wir doloses Verhalten jemals über Gesetze und Regelwerke in den Griff bekommen?
Kreutner: Nicht ausschließlich, aber auch nicht gänzlich ohne. Menschliches Verhalten richtet sich im Wesentlichen aus nach den Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung, von den sehr essentiellen Notwendigkeiten um Überleben und unmittelbare Schmerzvermeidung bis hin zu – frei nach Maslow – individueller, kultureller Selbstverwirklichung. Natürlich lässt sich hier mit „harten Gesetzen“ auch lenkend und reglementierend eingreifen. Wir sollten aber ebenso den wichtigen Einfluss sozialer und kultureller Rahmen und Kontexte nicht vergessen. Anzustreben wäre damit schließlich wohl die intrinsische Motivation des Einzelnen, doloses Verhalten aus sich selbst nicht zu tätigen.
In Summe gibt es das singuläre Wundermittel nicht, sondern kommt es - wie in so vielen Dingen des Lebens - auf den richtigen Mix bei richtiger Dosis an.
BC: Das Motto der heurigen Tagung ist ja “Rethink Compliance”. Ist es jetzt Zeit für einen eher „soft-skill“-basierten Ansatz und das Stärken von vertrauensbasierten Systemen?
Kreutner: Der Zeitpunkt ist goldrichtig, um eine generelle Standortbestimmung vorzunehmen und auch um manche Dinge zu überdenken. Es wird auch sinnvoll sein zu definieren, wohin sich die Compliance-Agenda entwickeln wird und wo man sich als Berufsgruppe und Verantwortliche dabei selber verorten und sehen möchte. Ohne diesen Prozess zu präjudizieren, kann ich mir persönlich eine erfolgreiche Compliance 2.0 ohne „soft-skill“-Ansätze und ohne ein mündiges und intrinsisches Werte-, damit Vertrauenssystem nur sehr schwer vorstellen. Und wenn ich mir eine solche vorstellen müsste, so wollte ich so eine Compliance wohl lieber gar nicht.
BC: Die Grenzen sind fließend: Wenn man einem langjährigen Geschäftspartner zu Weihnachten einen Brief mit einer Dose Kekse schickt, dürfte das noch nicht unter Bestechung fallen. Was sind sichere Indikatoren dafür, dass man den legalen Bereich verlässt?
Kreutner: Kekse sind gegebenenfalls zulässig. Und doch sollten wir die Frage stellen: warum schicken wir Kekse überhaupt? Und diese Frage wird der Adressat wohl auch aufwerfen. Damit haben wir zumindest schon den ersten Ansatz einer Antwort: ist die Keksdose Zeichen einer genuinen und exklusiven, zwischenmenschlichen Wertschätzung? Oder denkt sich der Rezipient: „Hier verursacht mir jemand Arbeit“, „Die wollen mich wohl anfüttern“, „Hier biedert sich jemand an“?
Sollte der innere Kompass unsicher sein, hilft wohl auch die fiktive Hinterfragung, ob wir die gegenständliche Zuwendung problemlos den eigenen Kindern erklären könnten oder auf der Firmen-Website mit Namen aufgelistet sehen möchten.
Abschließend muss ich als Jurist schließlich noch die juristische Antwort geben: überall dort, wo explizite Vorgaben und Normen - und seien es auch solche über Keksdosen – gebrochen werden, ist die Grenzüberschreitung bereits erfolgt. Und überall dort, wo ein fiduziarisches Mandat durch ein Fordern, Annehmen oder Sich-versprechen-lassen bzw. durch ein Anbieten, Versprechen oder Gewähren eines Vorteils missbraucht wird, gilt selbiges.
Zurück zur einfachen Lebenserfahrung: der weihnachtliche Kekse-Zustrom alleinig aus dem unmittelbaren Familien- und Freundeskreis stellt für sich schon oft eine Herausforderung dar…
BC: Durch die COVID-Hilfsmaßnahmen gegen die Lockdown-bedingten Verluste sind wir jetzt in der Situation, dass sehr viel Geld verteilt werden kann. Erwarten Sie hier einen Anstieg von Korruptionsfällen?
Kreutner: Diese waren nicht nur zu erwarten, sie sind leider schon eingetroffen. Vielfache Fälle von Sozial- und Fördermaßnahmenbetrug, von Verdacht des schweren gewerbsmäßigen Betrugs in Kombination mit Korruptionsvorwürfen in der Auftragsvergabe sind bereits Gegenstand der Schlagzeilen, strafrechtlicher Ermittlungen und politischer Diskussionen. Exemplarisch sei hier nur an die „Schutzmasken-Skandale“ in Österreich und Deutschland erinnert.
In Summe treffen generaliter einige Brandbeschleuniger zusammen: es werden sehr hohe Geldsummen aus dem öffentlichen Topf in kürzester Zeit ausgeworfen, alles passiert unter sehr hohem Zeit- und Erwartungsdruck, propere Ausschreibungs- und Kontrollverfahren werden „notstandsbedingt“ suspendiert, und die volatile Pandemie- und allgemeine Kenntnislage macht vorausschauendes Planen auch nicht einfacher. Dazu kommen manchmal noch Phänomene individuellen oder nationalen Darwinismus‘, wenn Kulturregeln oder zuvor getroffene Vereinbarungen überschnell dem eigenen Vorteil, der eigenen Versorgung geopfert werden.
BC: Ohne COVID wäre wahrscheinlich Wirecard das beherrschende Thema im Wirtschaftsleben des vergangenen Jahres gewesen – sehen Sie in dieser Affäre auch ein Versagen von Compliance-Mechanismen?
Kreutner: Bei aller juristisch-nötigen Unschuldsvermutung, muss in dieser Causa wohl von einem hohen und nachhaltigen Ausmaß krimineller Energie ausgegangen werden. Inwiefern hier selbst ein professionelles CMS eherne Riegel vorschieben hätte können, wage ich zu bezweifeln. Dies nicht zuletzt auch deswegen, weil hier in mehrfacher Personalunion die Spitze der Delinquenz auch gleichzeitig die Spitze der Unternehmung gewesen zu sein scheint.
Sehr wohl sind solche Fragen um Verantwortlichkeiten aber auch an die unterschiedlichsten externen Wirtschaftsprüfungs-, Aufsichts-, und Kontrolleinrichtungen zu richten, die über viele Jahre der Firma regelmäßig grüne Testate bescheinigt haben. Konnte das wirklich niemandem auffallen? Und wenn nein: was sind die Lehren für die Zukunft? Bei einem derzeit kolportierten Schaden von knapp zwei Milliarden Euro wird man wohl kaum einfach so zur Tagesordnung zurückkehren können.
Am Puls der Compliance-Zeit
BC: Sie werden ja jetzt nach 2018 und 2019 zum dritten Male an der „Compliance now!“ als Vortragender teilnehmen, möchten Sie uns mitteilen, welche Eindrücke Sie von Ihren ersten beiden Besuchen mitgenommen haben?
Kreutner: Eine sehr gut organisierte, dichte Veranstaltung mit breiter Möglichkeit zum bi- und multilateralen, professionellen Erfahrungsaustausch. Fast vermeint man vor Ort den sprichwörtlichen „Puls der Compliance-Zeit“ zu spüren und mitzuerleben. In diesem Sinne freue ich mich auch sehr auf ein persönliches 2021!
Martin Kreutner war bis 2019 Dean und Executive Secretary der International Anti-Corruption Academy (IACA). Davor war er Director des Austrian Federal Bureau for Internal Affairs und Präsident des European Partners against Corruption (EPAC/EACN) Netzwerks. Am 7. Oktober 2021 moderiert er im Rahmen der „Compliance now!“ eine Diskussion zum Thema „Compliance Risikomanagement – neu denken, breiter denken“