Hauptversammlungen, wie sie vor 2020 waren, werden wohl nicht wiederkommen, meinen Praktiker. Das kann man glauben bzw. wollen oder nicht. Was die Saison 2020 der meist virtuellen HVs jedenfalls gebracht hat, ist ein Nachdenken über den Sinn der Aktionärsversammlungen. Diese dienen „zugleich als Diskussionsforum und als Kristallisationspunkt der versammlungsgebundenen Aktionärsrechte“, hieß es so schön in den Erläuterungen zu unserem Aktienrecht schon 2009. „Normative Hochschätzung der HV“ nennt das Julia Nicolussi vom Institut für Unternehmensrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Die HV als Diskussionsforum oder als Formalakt
Aber wie sieht die Realität aus? Da stellte die Juristin bei der Business-Circle-Konferenz „AG-Hauptversammlung - Update und Spezialfragen“ provokante Fragen: Die HV als wirkliches Diskussionsforum oder ein Formalakt zum Abstimmen, worüber schon vorher (von institutionellen Investoren und Proxy Advisors) entschieden ist? Deshalb eine Teilnahmebereitschaft der Aktionäre, die Luft nach oben hätte? (Wer, wie viele unserer Leser, bei heimischen Hauptversammlungen dabei ist, und neben seinem Auskunfts- und Stimmrecht vielleicht auch sein Rederecht mit - kritischen - Fragen an das Podium wahrnimmt, wird das vielleicht positiver sehen.) Entscheidungsfindung und Abstimmungsergebnis sei „nur für den Nichtexperten überraschend“, so die WU-Forscherin, und daher: Für Kleinaktionäre lohne sich das Kommen nicht. Ihren Kosten stehe de facto kaum Möglichkeit zur Beeinflussung der Entscheidungen gegenüber. Ihre Stimmen würden nicht ins Gewicht fallen. Die HV als „Marketingveranstaltung und Protokollierung von Beschlüssen“? Nein, ganz so ist es nicht, meint sogar Nicolussi. Denn es gibt aktuelle Entwicklungen in die Gegenrichtung: Etwa die Verschiebung von Kompetenzen Richtung Stärkung der HV, wie das Beispiel Vergütungsbericht als eigener Tagesordnungs- und Abstimmungspunkt seit 2020 zeigt. Und die Digitalisierung der HV erleichtert neuen Kreisen die Teilnahme. Für die Unternehmensrechtlerin kommen aber das Auskunfts- und Rederecht „zu spät“, weil die Entscheidungen schon vor der HV fallen und die Generaldebatte de facto nicht mehr in die Entscheidung einfließe. Ihr Vorschlag: Vorverlagerung des Auskunfts- und Rederechts in ein „Aktionärsforum“ Tage vor der HV, um es von den Abstimmungen zu entkoppeln. Gibt es in Deutschland - aber nur in sehr abgespeckter Form.
Der Beitrag erschien zuerst im Börsen-Kurier