Business Circle: Liebe Frau Vietz, in unserem letzten Interview haben wir uns unter anderem darüber unterhalten, wie sich Erfolge in der Lehrlingsarbeit am besten messen lassen. Denken Sie, dass der Einsatz KI-gestützter Systeme eine Verbesserung in den Kennzahlensystemen bringt?
Susanne Vietz: KI-gestützte Systeme haben das Potenzial, eine tiefere, datenbasierte Analyse in der Lehrlingsarbeit zu ermöglichen. Durch die Auswertung großer Datenmengen können Muster und Trends erkannt werden, die uns dabei helfen, die Ausbildung zielgerichteter und individueller zu gestalten. Aber – und das ist für mich entscheidend – dürfen wir dabei nicht vergessen, dass hinter jeder Zahl ein junger Mensch mit individuellen Bedürfnissen und Potenzialen steht. Eine KI kann uns wertvolle Hinweise geben, doch das Einfühlungsvermögen und die menschliche Intuition der Ausbilder:innen bleiben unerlässlich, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
BC: Warum ist es für Sie wichtig, bei Lehrlingsausbildern das Interesse für Entwicklungspsychologie zu wecken?
Vietz: Entwicklungspsychologie ist der Schlüssel, um junge Menschen wirklich zu verstehen und ihre Potenziale optimal zu fördern. Wenn Ausbilder:innen die psychologischen Prozesse und Entwicklungsphasen ihrer Lehrlinge kennen, können sie gezielt auf deren Bedürfnisse eingehen. Es geht darum, die Menschen hinter den Fachkräften zu sehen und sowohl ihre persönliche als auch ihre fachliche Entwicklung zu fördern. Nur wer sich als Persönlichkeit weiterentwickelt, kann auch beruflich langfristig erfolgreich sein.
BC: Welches psychologische Grundwissen sollten Ausbilder mitbringen, um effektiv mit Lehrlingen arbeiten zu können? Gibt es so etwas wie Faustregeln?
Vietz: Ja, es gibt einige Faustregeln, die jede:r Ausbilder:in verinnerlichen sollte. Diese zielen allerdings nicht auf eine konkrete Qualifikation ab. Sondern:
1. Jeder Mensch hat sein eigenes Tempo. Es ist wichtig, Geduld zu haben und Lehrlingen den Raum zu geben, den sie brauchen, um sich zu entfalten.
2. Positive Verstärkung ist entscheidend. Erfolgserlebnisse motivieren und stärken das Selbstvertrauen, was wiederum die Lernbereitschaft fördert.
3. Verständnis für unterschiedliche Entwicklungsstufen. Ein 16-Jähriger befindet sich in einer völlig anderen Phase als ein 19-Jähriger – das sollte im Umgang und in der Kommunikation immer berücksichtigt werden.
BC: Wie kann man sich konkret ein Beispiel vorstellen, in dem ein entwicklungspsychologisches Konzept den Erfolg der Ausbildung verbessert hat?
Vietz: Ein konkretes Beispiel ist ein zweistufiges Konzept, das bereits erfolgreich bei Kunden umgesetzt wurde:
Zunächst wurden die Ausbilder:innen im Bereich Entwicklungspsychologie intensiv geschult. Diese Schulungen gaben ihnen ein tiefes Verständnis für die Entwicklungsphasen und psychologischen Bedürfnisse ihrer Lehrlinge. Sie lernten, wie sie gezielt auf individuelle Herausforderungen eingehen können und erhielten Werkzeuge, um das Verhalten ihrer Lehrlinge besser zu verstehen und zu fördern. Parallel dazu wurde für die Lehrlinge ein begleitendes Programm entwickelt, das außerhalb des Betriebes stattfand. In regelmäßigen Abständen nahmen die Lehrlinge an Reflexionsworkshops teil, in denen sie die Möglichkeit hatten, ihr eigenes Verhalten, ihre Rolle im Betrieb und ihre persönliche Entwicklung zu reflektieren. Diese Workshops wurden boten einen sicheren Raum, in dem die Lehrlinge offen über ihre Erfahrungen sprechen und Strategien für ihre Weiterentwicklung erarbeiten konnten. Das Ergebnis war beeindruckend: Die Kombination aus geschulten Ausbilder:innen und reflektierten Lehrlingen führte zu einer deutlichen Verbesserung des Betriebsklimas und der individuellen Lernerfolge. Die Lehrlinge fühlten sich besser verstanden und unterstützt, was ihre Motivation und ihr Engagement spürbar steigerte. Gleichzeitig konnten die Ausbilder:innen ihre Lehrlinge gezielter fördern, was zu einer höheren Zufriedenheit auf beiden Seiten führte.
Lebenslanges Lernen über Learning Communities, Mentoring-Programme und Lernzeiten
BC: Die Idee des Lebenslangen Lernens gewinnt an Bedeutung, welche Konzepte gibt es, das über die Lehrlingsausbildung hinaus in Unternehmen umzusetzen?
Vietz: Es gibt mehrere Konzepte, die Unternehmen dabei unterstützen können, die Idee des lebenslangen Lernens fest in ihre Kultur zu integrieren. Bewährte Konzepte sind Learning Communities, Mentoring-Programme oder auch Lernzeiten.
Learning Communities sind Gruppen, in welchen sich Mitarbeiter:innen regelmäßig über neue Entwicklungen, Herausforderungen und Best Practices austauschen. Dieser Austausch fördert das Lernen voneinander und stärkt den Teamgeist sowie die Innovationskraft des Unternehmens.
Neben der Unterstützung für Lehrlinge bieten Mentoring-Programme auch erfahrenen Mitarbeiter:innen die Möglichkeit zum kontinuierlichen Wissensaustausch. Dies fördert die ständige Weiterentwicklung sowohl der individuellen als auch der unternehmerischen Fähigkeiten.
Feste Zeitfenster im Arbeitsalltag, in denen Mitarbeiter:innen an Weiterbildungen teilnehmen können, nennt man Lernzeiten – sei es durch Online-Kurse, Seminare oder selbstgesteuertes Lernen. Diese Lernzeiten zeigen, dass Weiterbildung ein wesentlicher Bestandteil des beruflichen Alltags ist und vom Unternehmen aktiv unterstützt wird.
BC: „Tue Gutes und rede darüber“: Wie kann ein Unternehmen seine entwicklungsorientierte Ausbildung so nach außen kommunizieren, dass es für potenzielle Lehrlingsbewerber als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen wird?
Vietz: Es ist wichtig, authentisch und transparent zu kommunizieren. Unternehmen sollten die Geschichten ihrer Lehrlinge erzählen, zeigen, welche Entwicklungswege sie genommen haben und welche Unterstützung sie dabei erhalten haben. Das kann über Social Media, Unternehmensblogs oder durch Erfolgsgeschichten auf der eigenen Website geschehen. Auch Auszeichnungen oder Zertifikate für exzellente Ausbildungsarbeit können genutzt werden, um das Engagement des Unternehmens zu unterstreichen. Letztlich geht es darum, zu zeigen, dass die persönliche und berufliche Entwicklung der Lehrlinge im Zentrum steht und dass das Unternehmen ein Umfeld bietet, in dem Talente wachsen können.
BC: Abschließend: Sie waren ja 2023 schon Teil des Lehrlingsforums, möchten Sie Ihren Eindruck von dieser Konferenz mit uns teilen?
Vietz: Das Lehrlingsforum 2023 war für mich eine tolle Gelegenheit, mich mit Gleichgesinnten auszutauschen und die neuesten Entwicklungen in der Lehrlingsarbeit zu diskutieren. Besonders beeindruckend fand ich den offenen Dialog und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, um die Ausbildung noch besser an die Bedürfnisse der jungen Generation anzupassen. Es war inspirierend zu sehen, wie viele Unternehmen bereits erkannt haben, dass eine gute Ausbildung nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch die Persönlichkeit formt. Diese Erkenntnis, dass es um mehr geht als nur um fachliche Kompetenz, ist für mich ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung.
BC: Liebe Frau Vietz, Danke für Ihren Input! Wir freuen uns sehr, Sie wieder zum Lehrlingsforum zu begrüßen!
Susanne Vietz ist psychologischer Coach, Generationenmanagerin und Ausbilder:innen-Trainerin. Ihre Schwerpunkte sind Generationenkonflikte und Persönlichkeitsentwicklung. Susanne kennt die Vorurteile und die damit verbundenen Konflikte zwischen Lehrlingen und Ausbilder:innen wie Ihre Westentasche. Im Rahmen des Lehrlingsforums ist sie Gastgeberin eines Workshops zum Thema „Muss jede:r Ausbilder:in ein:e Psycholog:in sein?“